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Blick in einzelne Zellen: Prozesse der akuten Nierenschädigung aufgedeckt
26.09.2022 / Die akute Nierenschädigung ist eine häufige Komplikation bei unterschiedlichen Erkrankungen. Insbesondere Intensivpatient:innen sind betroffen. Die dazu führenden Mechanismen waren allerdings bislang nur wenig verstanden. Jetzt konnte ein interdisziplinäres Forschungsteam die molekularen Prozesse mithilfe der Einzelzell-Sequenzierung näher beleuchten. In den Fachmagazinen Genome Medicine* und Kidney International** zeigen sie molekulare Muster der geschädigten Nierenzellen auf, die zu neuen Ansätzen für künftige Diagnostik und Behandlung von Nierenschädigungen führen können. Derzeit ist eine Therapie nur eingeschränkt möglich. Die Studien sind in enger Kooperation zwischen der Charité – Universitätsmedizin Berlin mit dem Berliner Institut für Medizinische Systembiologie (BIMSB) des Max Delbrück Centers sowie mit dem Deutschen Rheuma-Forschungszentrum Berlin, ein Leibniz-Institut (DRFZ) und der Medizinischen Hochschule Hannover entstanden.
Blut, stabilisieren Wasserhaushalt und Blutdruck, beeinflussen den Energiestoffwechsel und stellen lebenswichtige Hormone her. Sind die Nieren funktionell eingeschränkt – wie etwa bei einer akuten Nierenschädigung – kann das schwerwiegende Folgen haben. „Die akute Nierenschädigung ist in der Klinik eine häufige und ernsthafte Komplikation bei schwerkranken Patient*innen, etwa die Hälfte der Intensivpatient*innen ist betroffen“, sagt Dr. Jan Klocke von der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Nephrologie und Internistische Intensivmedizin der Charité – Universitätsmedizin Berlin. „Die Problematik wird häufig unterschätzt. Eine akute Nierenschädigung ist mit einer erhöhten Sterblichkeit assoziiert, und Patientinnen und Patienten können bleibende Schäden davontragen bis hin zum kompletten Verlust der Nierenfunktion.“
Eine akute Nierenschädigung kann mit unterschiedlichsten Erkrankungen einhergehen. Sie tritt oftmals bei Herz-Kreislauferkrankungen oder schweren Infektionskrankheiten wie etwa COVID-19 auf, aber auch nach chirurgischen Eingriffen oder im Zusammenhang mit medikamentösen Therapien. Konkrete Behandlungsmöglichkeiten gibt es häufig nicht. „Wir versuchen betroffene Patient*innen zu stabilisieren, doch bislang ist es meist nicht möglich, die Schädigungsprozesse in der Niere medikamentös umzukehren“, sagt Dr. Christian Hinze, der eine der Studien maßgeblich an der Charité und in der Arbeitsgruppe von Professor Kai Schmidt-Ott am Max Delbrück Center betreut hat. Schmidt-Ott ist jetzt Direktor an der Klinik für Nephrologie an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), wo auch Hinze nun tätig ist. „Welche Mechanismen in den Nierenzellen ablaufen, darüber war bislang kaum etwas bekannt. Ziel unserer Studien war es, hier etwas Licht ins Dunkel zu bringen, mit dem langfristigen Ziel, in der Klinik künftig besser behandeln zu können“, sagt Hinze. Die Studien sind in enger Kooperation zwischen der Charité – Universitätsmedizin Berlin mit dem Berliner Institut für Medizinische Systembiologie (BIMSB) des Max Delbrück Centers sowie mit dem Deutschen Rheumaforschungszentrum und der MHH entstanden.
Auslöser für eine akute Nierenschädigung ist häufig eine unzureichende Blutversorgung der Niere. Dann erhalten die Zellen dort nicht mehr genügend Sauerstoff und Nährstoffe – sie reagieren mit Stress. Die Zellen gehen in eine Art Alarmmodus über und produzieren Signalstoffe, die im umliegenden Gewebe zu Entzündungs- und Umbauprozessen (Fibrose) führen. Aus Untersuchungen in Tiermodellen weiß man, dass Epithelzellen – Zellen, die die feinen Nierenkanälchen auskleiden – an diesen entzündlichen und fibrotischen Prozessen beteiligt sind. Das zeigten Untersuchungen mit Hilfe der sogenannten Einzelzell-Sequenzierung. Mit dieser modernen Methode kann der molekulare Zustand einer einzelnen Zelle präzise erfasst werden. Doch was passiert bei einer akuten Nierenschädigung auf zellulärer Ebene beim Menschen?
Dieser Frage sind die Teams um Dr. Hinze und Dr. Klocke in zwei nun veröffentlichten Studien nachgegangen. Sie gehören zu den ersten Arbeiten überhaupt, die die Prozesse der akuten Nierenschädigung mithilfe der Einzelzell-Sequenzierung in menschlichen Nierenzellen untersuchen. Dafür haben die Forschenden in Kooperation mit Professor Nikolaus Rajewsky am BIMSB Zellen aus Gewebeproben und Urin von über 40 Patient:innen untersucht und die molekularen Muster von mehr als 140.000 Zellen computergestützt analysiert und miteinander verglichen. „Mit der Einzelzell-Sequenzierung können wir quasi in jede Zelle hineinzoomen und sehen, welche Gene zu diesem Zeitpunkt in der Zelle aktiv sind“, erklärt Dr. Hinze. „Daran können wir erkennen, ob die jeweilige Nierenzelle gerade normal funktioniert, unter Stress steht oder dabei ist, abzusterben. Mit dieser hochmodernen Technik erhalten wir über die akute Nierenschädigung ein Verständnis in nie dagewesener Detailschärfe.“
So konnte das Team auch zeigen, dass verschiedene Zelltypen der Niere ganz unterschiedlich auf die akute Nierenschädigung reagieren. Die stärksten Antworten beobachteten sie in den Epithelzellen der Nierenkanälchen. Das sind die kleinsten Funktionseinheiten der Niere, die aus mehreren Abschnitten bestehen. Aus Tiermodellen wusste man, dass hauptsächlich Epithelzellen eines bestimmten Abschnitts von den Auswirkungen der akuten Nierenschädigung betroffen waren. Die Ergebnisse der vorliegenden Studien an menschlichen Nierenzellen ergaben nun aber, dass Epithelzellen nahezu aller Abschnitte der Nierenkanälchen in die Schädigungsprozesse involviert sind. „Das verdeutlicht noch einmal, wie wichtig es ist, dass wir humane Systeme untersuchen und besser verstehen lernen“, sagt Dr. Hinze. „In den verschiedenen Typen von Epithelzellen konnten wir bestimmte molekulare Muster identifizieren, die bei allen Patient:innen mit akuter Nierenschädigung vorkamen, jedoch mit individuell unterschiedlicher Häufigkeit. Diese Befunde könnten künftig dabei helfen, Risiken für schwere Krankheitsverläufe besser abschätzen zu können.“
Für die klinische Praxis wäre eine schnelle, nichtinvasive und präzise Untersuchungsmethode wünschenswert, die es ermöglicht, eine akute Nierenschädigung früh eindeutig zu diagnostizieren. Um dieser Zukunftsvision ein Stück näherzukommen, hat Dr. Klocke in Urinproben nach Epithelzellen gefahndet. Im Urin gesunder Menschen sind kaum Zellen zu finden. Doch bei einer akuten Nierenschädigung lösen sich Epithelzellen aus dem Gewebe der Nierenkanälchen und werden mit dem Urin ausgeschieden. Da aber Zellen im Urin nicht lange überleben, war zunächst unklar, ob die Zellen noch intakt sind und sich ihr molekularer Status quo mittels Einzelzell-Sequenzierung überhaupt messen lässt. „Wir haben die Urinproben binnen vier bis sechs Stunden verarbeitet, und es hat tatsächlich sehr gut funktioniert“, sagt Dr. Klocke. Die Forschenden konnten bestimmen, aus welchem Abschnitt der Nierenkanälchen die Zellen stammten und welche genetischen Programme sie als Antwort auf die Nierenschädigung aktiviert hatten. „Die Informationen, die die Zellen aus den Urinproben lieferten, stimmten mit denen der entsprechenden Zellen aus Gewebeproben gut überein“ sagt Dr. Klocke. „Somit verfügen wir mit dem Urin über eine unkomplizierte und nicht invasive Methode, um an Probenmaterial für weiterführende Untersuchungen zu kommen – um Biomarker auszumachen und so auf lange Sicht vielleicht Nierenbiopsien reduzieren oder ganz ersetzen zu können.“
Mit den beiden aktuellen Studien lieferte das Forschungsteam gänzlich neue Einblicke in die zellulären Mechanismen bei akuter Nierenschädigung sowie vielversprechende Ansätze für künftige Diagnoseverfahren und personalisierte Therapien. In weiterführenden Studien wollen sie eine größere Zahl an Patient:innen aufnehmen, die Ausprägungen der Zellantworten bei unterschiedlichen Grunderkrankungen untersuchen sowie grundlegende molekulare Mechanismen bei akuter Nierenschädigung mit Hilfe von Zellkulturen weiter aufdecken.
Weiterführende Informationen
- Zur Pressemeldung (www.mdc-berlin.de)
- Video-Interview mit Christian Hinze über seine Forschung am MDC
- Das Berliner Institut für Medizinische Systembiologie
- AG Rajewsky am MDC
- AG Schmidt-Ott am MDC
- Klinik für Nephrologie an der MHH
- Medizinische Klinik mit Schwerpunkt Nephrologie und Internistische Intensivmedizin
- Sonderforschungsbereich Nephroprotektion mit Sprecherschaft an der Charité
Literatur
Christian Hinze et al. (2022): “Single-cell transcriptomics reveals common epithelial response patterns in human acute kidney injury”; Genome Med. DOI: s13073-022-01108-9
Jan Klocke et al. (2022): “Urinary single-cell sequencing captures intrarenal injury and repair processes in human acute kidney injury”; Kidney Int. DOI: 10.1016/j.kint.2022.07.032
Das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (Max Delbrück Center) gehört zu den international führenden biomedizinischen Forschungszentren. Nobelpreisträger Max Delbrück, geboren in Berlin, war ein Begründer der Molekularbiologie. An den Standorten in Berlin-Buch und Mitte analysieren Forscher*innen aus rund 70 Ländern das System Mensch – die Grundlagen des Lebens von seinen kleinsten Bausteinen bis zu organ-übergreifenden Mechanismen. Wenn man versteht, was das dynamische Gleichgewicht in der Zelle, einem Organ oder im ganzen Körper steuert oder stört, kann man Krankheiten vorbeugen, sie früh diagnostizieren und mit passgenauen Therapien stoppen. Die Erkenntnisse der Grundlagenforschung sollen rasch Patient*innen zugutekommen. Das Max Delbrück Center fördert daher Ausgründungen und kooperiert in Netzwerken. Besonders eng sind die Partnerschaften mit der Charité – Universitätsmedizin Berlin im gemeinsamen Experimental and Clinical Research Center (ECRC) und dem Berlin Institute of Health (BIH) in der Charité sowie dem Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK). Am Max Delbrück Center arbeiten 1600 Menschen. Finanziert wird das 1992 gegründete Max Delbrück Center zu 90 Prozent vom Bund und zu 10 Prozent vom Land Berlin.
Über die Charité – Universitätsmedizin Berlin
Die Charité – Universitätsmedizin Berlin ist mit rund 100 Kliniken und Instituten an 4 Campi sowie 3.099 Betten eine der größten Universitätskliniken Europas. Forschung, Lehre und Krankenversorgung sind eng miteinander vernetzt. Mit Charité-weit durchschnittlich 17.615 und konzernweit durchschnittlich 20.921 Beschäftigten gehört die Berliner Universitätsmedizin auch 2021 zu den größten Arbeitgebern der Hauptstadt. Dabei waren 5.047 der Beschäftigten in der Pflege und 4.988 im wissenschaftlichen und ärztlichen Bereich sowie 1.265 in der Verwaltung tätig. An der Charité konnten im vergangenen Jahr 123.793 voll- und teilstationäre Fälle sowie 682.731 ambulante Fälle behandelt werden. Im Jahr 2021 hat die Charité Gesamteinnahmen von rund 2,3 Milliarden Euro, inklusive Drittmitteleinnahmen und Investitionszuschüssen, erzielt. Mit 215,8 Millionen Euro eingenommenen Drittmitteln erreichte die Charité 2021 einen erneuten Rekord. An einer der größten medizinischen Fakultät Deutschlands werden mehr als 9.000 Studierende in Human- und Zahnmedizin sowie Gesundheitswissenschaften und Pflege ausgebildet. Darüber hinaus werden 730 Ausbildungsplätze in 11 Gesundheitsberufen sowie 111 in 8 weiteren Berufen angeboten. Die Berliner Universitätsmedizin setzt Akzente in den Forschungsschwerpunkten: Infektion, Inflammation und Immunität einschließlich Forschung zu COVID-19, Kardiovaskuläre Forschung und Metabolismus, Neurowissenschaften, Onkologie, Regenerative Therapien sowie Seltene Erkrankungen und Genetik. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Charité arbeiten unter anderem in 28 DFG-Sonderforschungsbereichen, darunter sieben mit Sprecherfunktion, in drei Exzellenzclustern, davon eines mit Sprecherschaft, 10 Emmy Noether-Nachwuchsgruppen, 14 Grants des European Research Councils und 8 europäischen Verbundprojekten mit Charité-Koordination.
Forschung an der Charité
Sonderforschungsbereich Nephroprotektion
Die beiden Studien sind im Kontext des durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereichs SFB 1365 „Nephroprotektion“ entstanden. Das interdisziplinäre Forschungskonsortium zielt darauf ab, übergeordnete Schädigungsmechanismen, die bei akuter Nierenschädigung sowie chronischer Nierenerkrankung eine Rolle spielen, besser zu verstehen und mögliche therapeutische Ansatzpunkte zu identifizieren.
Quelle: Gemeinsame Pressmeldung des Max Delbrück Centers und der Charité – Universitätsmedizin BerlinBlick in einzelne Zellen: Prozesse der akuten Nierenschädigung aufgedeckt