direkt zum Inhalt springen
Abdeckung

News

 

Schlafenden Tumorzellen die Orientierung nehmen

22.02.2021 / Dormante Krebszellen, die sich vom Primärtumor gelöst haben und nun im Blutkreislauf zirkulieren, können durch die Chemotherapie oft nur unzureichend vernichtet werden. So kommt der Krebs früher oder später als Fernmetastase wieder zurück. Einem interdisziplinären Forscherteam vom Leibniz-Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie (FMP) in Berlin, der Universität zu Köln, sowie der Universiteit Leiden ist es gelungen, neuartige Moleküle zu entwickeln, die das Dilemma unterbrechen. Die Substanzen sind in der Lage, eine für die Metastasierung essentielle Proteinfamilie zu hemmen, so dass Krebszellen an ihrer Wanderschaft in entfernte Orte des Organismus gehindert werden, wie präklinische Experimente zeigten. Die Ergebnisse der Arbeit sind im Fachjournal PNAS erschienen.

Krebs ist tückisch. Selbst wenn der Tumor scheinbar komplett entfernt worden ist, verbleiben häufig etliche Tumorzellen schlummernd in den Blutbahnen des Körpers. Zytostatika sollen einen Rückfall verhindern, doch die „schlafenden“ Krebszellen erwischt die Chemotherapie nicht. Der Grund: Die meisten Zytostatika töten nur die sich schnell vermehrenden Zellen. Dormante Tumorzellen sind nicht aktiv und es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese Zellen eine Resistenz gegen die Therapie entwickeln. Danach wandern sie - angelockt durch Wachstumshormone – aus den Lymph- oder Blutbahnen aus und nisten sich im Organ ein. Über diesen Weg bilden sie dann Metastasen, die meist nicht mehr heilbar sind.
Forscher am FMP versuchen deshalb, invasive Krebszellen an ihrer Wanderschaft zu hindern. Angriffspunkt ist die Proteinfamilie Ena/VASP. Diese Proteine werden von allen Zellen benutzt, die ihre Form verändern müssen, etwa Immunzellen, Nervenzellen oder Blutplättchen; in besonders invasiven Krebszellen sind sie stark überexprimiert. Ena/VASP-Proteine sorgen in Interaktion mit weiteren Proteinen für den Umbau des Zellskelettes, damit eine Zelle gerichtet wandern kann, weshalb sie bei Krebs unerlässlich für die Metastasierung sind. Und genau an diesem Punkt greifen die Forscher an: „Die Idee ist, dass schlafende Krebszellen ihre Orientierung verlieren, wenn wir die fatale Maschinerie mit Hemmstoffen unterbrechen“, sagt Dr. Matthias Barone, Biochemiker in der Arbeitsgruppe „Drug Design“ von Ronald Kühne.

Set von Molekülen erfolgreich modifiziert
Bereits 2015 hatte das Forscherteam ein Molekül identifiziert, das an die Proteinfamilie bindet, jedoch war es noch nicht wirksam genug, um in geringen Mengen einen Effekt im Organismus zu erreichen. Dies ist jetzt durch weitere chemische Modifikationen am Molekül gelungen.
Zellexperimente zeigten: Krebszellen, die mit den Substanzen behandelt wurden, verlieren ihre Fähigkeit, entlang der Lockstoffe zu wandern. Je höher die Konzentration, desto stärker war der Effekt. „Unsere Moleküle binden spezifisch an die Proteinfamilie Ena/VASP, wodurch die Interkation mit weiteren Proteinen verhindert wird bzw. Partnerproteine verdrängt werden“, erläutert Matthias Barone das Wirkprinzip. „Dadurch werden die Krebszellen zwar nicht abgetötet, aber sie werden sozusagen orientierungslos und können ihren Weg in die Blutbahn oder in andere Organe nicht mehr finden.“
Dass dies auch im lebenden Organismus funktioniert, zeigten Experimente mit Zebrafischembryos, denen Brustkrebszellen implantiert worden waren. Fischembryos, die in diesen Substanzen schwammen, zeigten danach signifikant weniger Brustkrebszellen, die aus dem Blutkreislauf in die Schwanzflosse metastasierten.
Wichtig für die Weiterentwicklung der Substanzen: Das Forscherteam konnte nachweisen, dass die modifizierten Moleküle spezifisch an die Proteinfamilie binden und nicht an andere verwandte Proteine, was weitreichende unerwünschte Folgen nach sich ziehen könnte.

Blockade verhindert Metastasierung
„Wir haben in dieser Arbeit zum einen gezeigt, dass diese Proteinfamilie absolut notwendig für den Prozess der Metastasierung von Krebszellen ist“, fasst Arbeitsgruppenleiter Dr. Ronald Kühne die im Fachjournal PNAS publizierten Ergebnisse zusammen. „Und zweitens konnten wir als erste Forschergruppe weltweit ein Set an Molekülen entwickeln, das die Proteinfamilie erkennen und den Prozess hemmen kann. Das öffnet natürlich die Möglichkeit, parallel zu den zytostatischen Therapien, die Metastasierung zu unterbinden oder wenigsten zu verlangsamen.“
Im nächsten Schritt werden die Berliner Drug Designer die pharmakologischen Eigenschaften des Moleküls optimieren, damit es im Tiermodell erprobt werden kann. Am Ende einer langen Entwicklungsprozesses könnte in Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie ein Medikament entstehen, das das Überleben bei Krebs deutlich verbessert. Bis dahin ist es zwar noch ein steiniger Weg, aber die wichtige erste Etappe ist erreicht.

Publikation
Matthias Barone, Matthias Müller, Slim Chiha, Jiang Ren, Dominik Albat, Arne Soicke, Stephan Dohmen, Marco Klein, Judith Bruns, Maarten van Dinther, Robert Opitz, Peter Lindemann, Monika Beerbaum, Kathrin Motzny, Yvette Roske, Peter Schmieder, Rudolf Volkmer, Marc Nazaré, Udo Heinemann, Hartmut Oschkinat, Peter ten Dijke, Hans-Günther Schmalz, Ronald Kühne, Designed nanomolar small-molecule inhibitors of Ena/VASP EVH1 interaction impair invasion and extravasation of breast cancer cells, Proceedings of the National Academy of Sciences, Nov 2020, 117 (47) 29684-29690; DOI: 10.1073/pnas.2007213117

Das Leibniz-Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie (FMP) gehört zum Forschungsverbund Berlin e.V. (FVB), einem Zusammenschluss von sieben natur-, lebens- und umweltwissenschaftlichen Instituten in Berlin. Die vielfach ausgezeichneten Einrichtungen sind Mitglieder der Leibniz-Gemeinschaft. Entstanden ist der Forschungsverbund 1992 in einer einzigartigen historischen Situation aus der ehemaligen Akademie der Wissenschaften der DDR.

Foto: Links: Anhand von Kristallstrukturen wurden die Inhibitoren optimiert und die Bindungsstärke an Ena/VASP erhöht. Rechts oben: Behandelte Krebszellen wandern nicht mehr zum Lockstoff hin. Optimierte Inhibitoren rufen diesen Effekt schon bei geringerer Konzentration hervor. Rechts unten: Krebszellen (rot) metastasieren aus den Blutgefäßen (grün) in der Schwanzflosse von Zebrafischen. Optimierte Inhibitoren (Inh. 7) reduzieren die Metastasenbildung. Bild: Matthias Barone

Quelle: Leibniz-Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie (FMP)
Leibniz-Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie (FMP)

Alle News im Überblick