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Immer Richtung Arterien

28.02.2022 / Wie ein neues Blutgefäß den passenden Durchmesser erhält, war bisher unbekannt. Ein Team um den MDC-Forscher Holger Gerhardt berichtet jetzt im Fachblatt „Development“, dass eine zielgerichtete Wanderung neu gebildeter Zellen von den Venen in Richtung Arterien entscheidend dafür ist.

Blutgefäße eines Zebrafischembryos: die Expression des Wiskott-Aldrich-Gens ist auf dem rechten Bild abgeschwächt. Schwarz: Aktinfilamente im Zellzytoskelett, rot: Zellkerne von Endothelzellen (© Andre Angelo Sousa Rosa /Gerhardt Lab, MDC)
Blutgefäße eines Zebrafischembryos: die Expression des Wiskott-Aldrich-Gens ist auf dem rechten Bild abgeschwächt. Schwarz: Aktinfilamente im Zellzytoskelett, rot: Zellkerne von Endothelzellen (© Andre Angelo Sousa Rosa /Gerhardt Lab, MDC)

Auf einer Länge von etwa 150.000 Kilometern bilden die menschlichen Blutgefäße ein weit verzweigtes Netz, das jede noch so entlegene Stelle des Körpers mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt. Je weiter sich die vom Herz wegführenden Gefäße verästeln, desto feiner werden sie. Während die Hauptschlagader, die Aorta, einen stolzen Durchmesser von rund drei Zentimetern besitzt, beträgt dieser bei den kleinsten Kapillaren nur noch ein paar Mikrometer.

Ähnlich sieht es auf dem Weg zurück zum Herzen aus. Zwar liegt der Durchmesser der kleinen Venolen, die das sauerstoffarme Blut transportieren, bereits im zwei- bis dreistelligen Mikrometerbereich. Bei den beiden Hohlvenen aber, die ins Herz münden, beträgt er zwei Zentimeter.

Fehlbildungen der Gefäße verstehen

„Wie ein neu gebildetes Gefäß den passenden Durchmesser erhält und diesen auch auf seiner ganzen Länge konstant beibehält, war bisher unbekannt“, sagt Professor Holger Gerhardt, Leiter der Arbeitsgruppe „Integrative Vaskuläre Biologie“ am Berliner Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC). Gemeinsam mit seinem Team und Forscher*innen des Deutschen Zentrums für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK) in Berlin, des Berlin Institute of Health (BIH) und der University of Edinburgh in Schottland ist Gerhardt dieser Frage nachgegangen.

„Mit unserer Forschung können wir dazu beitragen, angeborene Fehlbildungen von Gefäßen besser zu verstehen – zum Beispiel die Entstehung von Shunts, bei denen Arterien und Venen direkt miteinander verbunden sind, wodurch das Gewebe über die Kapillaren nicht mehr ausreichend mit frischem Blut versorgt werden kann“, erläutert Gerhardt. Finanziell unterstützt wurde seine Studie vom DZHK, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), vom European Research Council (ERC) und von der Leducq Foundation. Publiziert ist sie in der Fachzeitschrift „Development“. Erstautoren der Veröffentlichung sind der Entwicklungsbiologe Dr. André Rosa und der Mathematiker Dr. Wolfgang Giese, beide Postdocs in Gerhardts Arbeitsgruppe.

Wanderung gegen den Blutstrom

„In Experimenten mit durchsichtigen Zebrafischlarven haben wir beobachten können, wie sich Arterien und Venen erstmalig bilden“, berichtet Gerhardt. Man habe sich insbesondere das Endothel, also die innere Auskleidung der Blutgefäße, angeschaut, um zu verstehen, wie die Gefäße aussprießen und sich miteinander verbinden. „Dabei konnten wir jede einzelne Endothelzelle auf ihrer Wanderung durch den Organismus verfolgen“, sagt der Forscher. Ihre zahlreichen Live-Aufnahmen haben die Wissenschaftler*innen anschließend mithilfe mathematischer Modelle am Computer analysiert.

Die Zahl der Zellteilungen bestimmt demnach den Durchmesser der Venen. Bei Arterien wird er hingegen durch die zielgerichtete Migration von Zellen aus den Venen festgelegt.

„Die Zellen wandern also aktiv, gegen den Blutfluss, in die sich bildenden Arterien ein“, erklärt Gerhardt. „Tun sie dies nicht, werden die Venen zu dick und die Arterien zu dünn – und es kommt darüber hinaus zu Shunts, die dann auch bestehen bleiben.“

Ein Protein reguliert die Migration

In einem weiteren Schritt haben die Forscher*innen ermittelt, ob die Migration der Zellen von den Venen in die Arterien durch ein bestimmtes Gen kontrolliert wird. „Gesucht haben wir zunächst bei den Erbanlagen, die das Aktinzytoskelett regulieren, das an allen Bewegungen von Zellen im Organismus beteiligt ist“, erzählt Gerhardt. „Dabei haben wir erstaunlicherweise gesehen, dass das Gen für ein Protein namens WASp in den Endothelzellen äußerst aktiv ist.“

Die Abkürzung WASp steht für die englische Bezeichnung „Wiskott-Aldrich-Syndrome protein“, das für die Funktion des Zytoskeletts ganz wesentlich ist. Ist es defekt, ruft es eine erbliche Immunstörung hervor. „Bislang hatte man gedacht, dass das WASp-Gen nur in weißen Blutkörperchen exprimiert wird“, sagt Gerhardt. „In Endothelzellen hingegen schien es bisher keine große Rolle zu spielen.“

Diese Annahme stellte sich allerdings als ein Irrtum heraus: „Nachdem wir in einigen Zebrafischlarven das WASp-Gen gezielt ausgeschaltet hatten, blieb die zielgerichtete Wanderung von Endothelzellen in Richtung Arterien aus und es kam vermehrt zu Shunts“, berichtet Gerhardt. Spannend sei diese Beobachtung vor allem deshalb, weil Menschen mit einem veränderten WASp-Gen mitunter auch an wiederkehrenden Aneurysmen leiden. Ein Aneurysma ist eine ballonartige Aussackung in der Wand von Blutgefäßen, meist von Arterien. Wenn es reißt, kann dies zu lebensbedrohlichen Blutungen führen.

Forschung mit menschlichem Gewebe

Als nächstes wollen Gerhardt und seine Kolleg*innen überprüfen, inwieweit sich ihre Beobachtungen auf den Menschen übertragen lassen. „Wir möchten herausfinden, ob der von uns entdeckte Mechanismus bei der Entstehung von Krankheiten eine Rolle spielt und, wenn ja, inwieweit er sich beeinflussen lässt“, sagt Gerhardt. Dabei stehe nicht nur das seltene Wiskott-Aldrich-Syndrom im Fokus ihrer Forschung. Denkbar sei auch, dass ein verändertes WASp-Gen zum sehr viel häufigeren Lungenhochdruck führen könne.

Text: Anke Brodmerkel

Abbildung: Blutgefäße eines Zebrafischembryos: die Expression des Wiskott-Aldrich-Gens ist auf dem rechten Bild abgeschwächt. Die Aktinfilamente im Zellzytoskelett sind in schwarz dargestellt, Zellkerne von Endothelzellen in rot. (© Andre Angelo Sousa Rosa /Gerhardt Lab, MDC)

Weiterführende Informationen

Literatur

André Rosa, Wolfgang Giese et al. (2022): „WASp controls oriented migration of endothelial cells to achieve functional vascular patterning“, Development, DOI: 10.1242/dev.200195

Quelle: Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC)
https://www.mdc-berlin.de/de/news/news/immer-richtung-arterien

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